Leseprobe aus dem Film „Rummmsmaschine“
Text aus dem Faltblatt der EP7 (Flyer)
Max Baum alias Ulf Baum, Auszug aus seinem Roman
„Der Obstbaum – Tausend Tonnen Obst zwischen Baum und Borke“.
Das Versteck der absoluten Stille in der Musik
Der Zauber der Musik war das Wichtigste! Nicht die Eitelkeit, nicht der Verdienst, nicht die Macht der Manipulation, das Politisieren. Der pure Zauber, der sie in Verzückung brachte, der sie weinen ließ, der sie berauschte, der Durst nach ewigem Klang.
Jetzt, mit der Gründung der Band, begann für sie nun endlich das große verheißungsvolle Austoben der musikalischen Lebensweise auf der unendlichen Lebenswiese der Musik. In der renommierten Tageszeitung „Junge Welt“, die Rotkehlchen mitgebracht hatte, fand der Sänger die Erfolgsmeldung: „Mit Tausend Tonnen Obst den Plan erfüllt!“ – Was für eine herrliche Zeitungsente! Ein Sprachrohr der illustrierten Welt des Märchenlandes stand unbewusst Pate bei der Namensgebung einer Band und öffnete das Fruchtportal für ihre Aussaat. Jetzt hatte das Kind endlich einen Namen. Die Band hieß jetzt offiziell Tausend Tonnen Obst. Und ihr Schlachtruf konnte natürlich nur mit einem Augenzwinkern lauten: Von der Probe entbindet nur die Krankheit, von der Mugge nur der Tod! Mit dieser Kampfansage wollten sie sofort, ohne Einstufung, auftreten. Jetzt waren sie eine Band, und die Band trug einen Namen. Das gewohnte Leben konnte diesbezüglich nicht mehr im Viervierteltakt vor sich hin trotten. Jetzt war alles anders.
Hammerschläge, Eisenleiter und enharmonische Verwechslungen
Olaf Tost, der Sänger von die anderen, verdingte sich jetzt als Produzent. Er hatte zusammen mit Gunther Krex, dem ehemaligen Bassisten von Engerling, als Alternative zum Märchenlandstudio ein halbillegales Tonstudio in Gunthers Einraumwohnung gepflanzt. Das war neu. – In der verzauberten Einraumwohnung schlummerte eine gigantische Energie. Gunther und Toster hatten eine sehr gute Verbindung zum Rundfunk und waren auch sehr redegewandt. Sie verfügten zum Glück über ein großartiges Repertoire an Überredungskunst, die man immer noch beim Zensor des Rundfunks brauchte, damit die Songs über den Märchenlandäther geschickt werden konnten. Das freundliche Angebot, TTO zu produzieren, kam von Toster und so liefen die Bandmaschinen schon mal auf Hochtouren.
Er war begeistert von der Band und wollte ihre Songs „Accident“ und „Karriere“ produzieren. Eine tektonische Plattenproduktion bei Amiga, wie es Feeling B oder Die Skeptiker gemacht hatten, wäre für TTO nicht infrage gekommen.
Es war kaum fassbar. Nach so kurzer Existenz der Band sollten sie über einen kleinen alternativen Umweg in den Genuss kommen, die eigenen Songs zu produzieren. Doch bei aller Begeisterung für die Produktion konnte man als eingeschliffener Märchenlandbewohner das Ostbesteck, das sogenannte primitive Ostequipment, nicht noch einmal verzaubern. Es wäre nicht besser geworden. Aber die Band ließ sich nicht entmutigen. Reini borgte sich Becken, Falk durfte den Bassverstärker von Gunther benutzen, Kurt und Schandmaul kauften jeweils offiziell ein Plektrum im Intershop und hatten dann zufällig zwei rauscharme und geerdete Klinkenkabel aus dem Zauberland in der Tasche. Kurt hatte einen Verstärker von Bender, Marke Eigenbau. Schandmaul spielte über einen fiesen „Regent“ mit eingebautem Federhall, der immer wie ein verwunschener Rasierapparat brummte. Ein „Regent“ bleibt eben ein Regent, aber was für einer.
Es war ihre erste Produktion überhaupt, und die Aufregung war natürlich sehr groß. Die Aufnahme der einzelnen Spuren, erst Schlagzeug, dann Bass, die Gitarren und zum Schluss der Gesang, waren so nicht gedacht. Sie hatten ja keine Ahnung davon, wie man im Studio arbeitet. Bisher spielten sie immer nur zusammen, und jetzt sollten sie alles einzeln auf Extraspuren, wie es heißt, aufnehmen. Das war komplett neu und die Verunsicherung war groß.
Da dem Sänger für „Accident“ nur ein pseudoenglisches Textfragment diente, verhalf der versierte Toster dem Song zu einem wahrhaft englischen Facelifting. Aber der Song hatte nicht die erhoffte Power, wie bei Live-Konzerten.
Er klang trocken und steril, wie aus einer Blechdose. Doch dann geschah, wie in jedem Märchen, ein kleines Wunder, unverhofft ging die Tür auf und eine Eisenleiter wanderte vom Baugerüst vor dem Haus direkt ins Studio. Mit Hammerschlägen malträtierte die Band während der erneuten Aufnahme die Leiter und der Song bekam endlich die stringente Härte, die er verlangte. Gunther schüttelte sein langes schwarzes Haupthaar für die Band und auch Toster war sichtlich von diesem kreativen Einwurf beeindruckt und überzeugt. Selbst der deutschsprachige Song „Karriere“ wurde durch die Produktion endlich zu einer greifbaren Metapher. Das von der kleinen Trommel aufgegriffene, annähernd „Bolero“- ähnliche Thema von Ravel, untermalt mit harten Gitarrenriffs, die einen Gleichschritt von Soldatenstiefeln imitieren sollten und einer gequälten in Moll fliesenden Basslinie, die bei einer späteren Produktion durch ein Cello ergänzt wurde, gipfelte unweigerlich in ein vierkehliges Männer-Staccato, das den Schluss mit einem symbolisch zur Faust geballten „NEIN“ abrundete. Es übertraf die kühnsten Träume der Band, und die Vorstellungen bei weitem. Die letzte Passage ihres Liedguts fand später in einem Song von den Inchtabokatables eine zweite Heimat.
Schandmaul hatte diesen Song, nicht ohne Augenzwinkern, dem König mit der nuschelnden Kastratenstimme gewidmet und kündigte ihn immer mit „Für meinen Freund E. H.“ an, und beendete ihn mit der deutlichen Aussage: „Scheißmilitarismus!!!“
Schandmaul wusste natürlich nicht, dass ER sehr oft mit diesem Kürzel E. H. unterschrieb, und hatte sich immer für ein Intermezzo mit den Höllenhunden von der Staatssicherheit gewappnet und eine merkwürdig verschrobene Erklärung parat. Manchmal musste man im Märchenland so um die Ecke denken, dass man es kaum selber verstehen konnte. Für eine eventuelle Verhaftung hatte er sich eine kleine Geschichte zurechtgelegt. So wollte er das Kürzel E. H. als eine enharmonische Verwechslung ausgeben.
Eine enharmonische Verwechslung ist in der Musik ein Umdeuten von Tönen in andere Töne. Also, wenn sie in einer Komposition die gleiche Höhe und die gleiche Stimmung haben, aber einen anderen Namen tragen. Das ist wichtig für den Wechsel in eine andere Tonart. Und dieses Spiel der Verwechslungen machte sich Schandmaul zunutze, um die Höllenhunde zu irritieren. Das Kürzel E stand also für den Akkord E-Dur. H war dann also die enharmonische Verwechslung von B, d. h., aus H wurde B-Dur. Und somit lautete die Abkürzung E. B. und fiktiv hatte er zu seiner Verteidigung – er möge ihm verzeihen – den Sänger der Skeptiker, Eugen Balanskat, für sein seltsames Verwechslungsspiel als Sündenbock auserkoren. Die Band war eingeweiht und sie machten intern ihre Scherze damit. Schandmaul hatte natürlich nicht wirklich was gegen Eugen. Im Gegenteil. Eugen ließ sich nicht dazu herab, sich zu uniformieren. Er trug keine Lederjacke, um wie ein Punk auszusehen. Eugen trug einen schwarzen Anzug und verschaffte sich den nötigen Respekt. Dieses schizophrene Märchenlandsyndrom, die Texte zwei- oder mehrdeutig schreiben zu müssen, war ganz schön bekloppt, aber auf allen Ebenen landestypisch. Manchmal wurde dieses Um-die-Ecke-Denken nervig, aber irgendwie förderte es natürlich auch die Kreativität und machte irgendwann sogar Spaß.
Der Sänger schrieb 1988 einen eigenwilligen Text auf ein Briefpapier, auf dessen Briefkopf Max und Moritz abgebildet waren. Die Assoziation lag nahe, aus der Witwe Bolte von Wilhelm Busch eine „Witwe Revolte“ werden zu lassen. Es war aber nur eine kleine Spielerei, eine provokative Koketterie ohne weitläufige Hintergedanken. An eine Revolution im Märchenland hatte wohl niemand wirklich geglaubt. Und trotzdem entstand der Song „Witwe Revolte“. Jetzt, 1988.
Da die Musik von Tausend Tonnen Obst aber extrem laut war, und das auf keinen Fall geändert werden sollte, wurden die deutschsprachigen Texte selten wirklich verstanden. Der Sänger machte sich sogar die Mühe und vervielfältigte die Texte mit der Schreibmaschine „Erika“, die ihm eine gute Freundin geschenkt hatte, und warf das Handgeschriebene bei den Konzerten voller Hoffnung ins Publikum. Aber das ganze Texteweben, das Sätzenähen und das Worteschneiden nützte nichts, es machte sich kaum jemand daran, die Texte zu lesen. Im Märchenland gab es ja viele Texte oder Gedichte ohne Gesicht und viele Gesichter ohne Gedicht. So war das.
Die Band befand sich im bedingungslosen Sog der Musik und in Ermangelung der nicht vorhandenen Texte, sang Schandmaul wieder extralingual, wie bei der Schoensten Muziek, seine Wortsalate, die außerhalb des bekannten und unbekannten Sprachsystems verwurzelt waren. Später, als er dann wieder Texte schreiben konnte und sie auswendig lernen wollte, kam ihm immer wieder dieser Wortsalat in die Quere, dessen Sinn von äußerst zweifelhafter Natur war. Es war besonders hinderlich, denn der Sänger hatte diesen Pseudokram so vollkommen inhaliert, dass er sofort abrufbar war. Gleich nach Beendigung der Produktion von „Accident“ und „Karriere“ bot Gunther das noch frischgebackene und heiße Material dem Rundfunk an. Die Leute vom Sender reagierten natürlich ordnungsgemäß, wie erwartet. „Karriere“ fiel beim Zensor sofort wegen der Fäkalausdrücke unter den Tisch und „Accident“ hatte ja einen englischsprachigen Text, der ihnen aber auch nicht ganz geheuer schien und nicht ins Konzept passte. Irgendwie gelang es Gunther dann doch, wenigstens die Moderatoren zu überzeugen, „Accident“ über den Äther zu jagen. TTO machten an diesem Tag Party, denn sie wussten, dass sie es geschafft hatten und ihr Baby „Accident“ zum ersten Mal im Radio zu hören sein wird. Sie lauschten gespannt der folgenden Moderation. Der verwirrte Moderator kündigte die Band an und es schallte aus der Kofferheule: „Und jetzt die Band Accident mit dem Titel Tausend Tonnen Obst!“
Er revidierte sich zwar sofort nach dem Song: Ja, hätte die Band einen deutschsprachigen Titel gehabt!? … –, und es folgte das übliche Blablabla einer moralisch-sozialistisch geprägten Entschuldigung. Vielleicht hatte er immer noch die 60/40-Ost-West-Schere in seinem Kopf. Egal, „Accident“ lief von nun an im Radio und machte TTO im Märchenland bekannt. Später, durch den Moderator Lutz Schramm und seine Sendung Parocktikum, landete der Song sogar auf dem 2. Platz seiner Charts und besetzte ihn zehn Wochen lang. Den 1. Platz blockierte eine Heavy Metal Band. Wahrscheinlich war es Biest. Insgeheim freuten sie sich über den kleinen Ritterschlag aus dem Parallelulliversum, denn „God Save the Queen“ von den Sex Pistols hatte auch NUR den 2. Platz in den UK-Charts erobert. „Karriere“ sollte dann doch noch etwas später in den Genuss kommen und wurde 1989 auch gespielt. Das hatten sie Toster und Lutz Schramm zu verdanken. Lutz Schramm bot vielen Undergroundbands mit seiner Sendung eine Plattform. Er schickte Schandmaul sogar die Chartlists und sie bekamen Fanpost und es mehrten sich die Anfragen nach Aufnahmen (Kassetten). Das war dann doch sehr komisch, sie hatten ja nur zwei Aufnahmen, und die zu verschicken, war der Band doch eher peinlich.